Bonner Querschnitte 47/2020 Ausgabe 665

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Cottbuser Erklärung zur DDR-Zwangsarbeit vom 13. September 2020: â??Diesen Menschen ist schwerstes Unrecht widerfahrenâ??

(Bonn, 16.10.2020) Die Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft e.V. (UOKG), das Menschenrechtszentrum Cottbus (MRZ), die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) und die Memorial Foundation Victims of Communism (VIC) veranstalteten ein Tribunal „Zwangsarbeit in politischer DDR-Haft“. Die hochkarätig besetzte internationale Jury hörte zwei Tage lang Fachvorträge und befragte 14 Zeugen. Am Ende verfasste die Jury die „Cottbuser Erklärung zur DDR-Zwangsarbeit“.

Das Logo der VeranstaltungThomas Schirrmacher, Präsident des Internationalen Rates der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, kommentierte das Ergebnis gegenüber der Presse: „Fast alle Anträge auf Anerkennung von posttraumatischen Erkrankungen infolge von Zwangsarbeit wurden und werden bislang abgelehnt, und viele ehemalige politische Gefangene der DDR sind darüber verzweifelt. Die Langatmigkeit, ja Lahmheit, mit der die Behörden diese Anträge bearbeiten, ist erschreckend, ja menschenverachtend. Der wichtige Passus dieser Erklärung ist daher meines Erachtens die Forderung nach Umkehr der Beweislast im Falle von hafttypischen Folgekrankheiten durch die Zwangsarbeit.“

Dieter Dombrowski, Bundesvorsitzender der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG), begrüßte die Cottbuser Erklärung mit den Worten: „Es ist wichtig, dass im 30. Jahr der Deutschen Einheit die Ausbeutung von politischen Gefangenen durch Zwangsarbeit nicht in Vergessenheit gerät. Viele der ehemaligen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen haben schwere körperliche und seelische Schäden zurückbehalten. Die Jury war in der Beratung und in ihren Forderungen einig. Diesen Menschen ist schwerstes Unrecht widerfahren, und sie benötigen Hilfe und Unterstützung.“

Foto: Während einer Plenarsitzung © BQ/Martin WarneckeDr. Susanne Kill, seit 1999 Leiterin der „Konzerngeschichte / Historischen Sammlung“ bei der Deutsche Bahn AG und Autorin des Buches „Die Reichsbahn und der Strafvollzug in der DDR“ sprach über „Häftlingszwangsarbeit für die Deutsche Reichsbahn der DDR“. Weitere Fachvorträge zu „Zwangsarbeit politischer Häftlinge in der SED-Diktatur“ hielten Dr. Jan Philipp Wölbern, Universität Potsdam und Spezialist für den Häftlingsfreikauf zwischen DDR und BRD, und Dr. Christian Sachse.

Außerdem sprachen Maria Nooke, die Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur, und Birgit Neumann-Becker, die Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Birgit Neumann-Becker stellte zugleich die Wanderausstellung des Landes Sachsen-Anhalt vor, die in Cottbus aufgestellt worden war und bestellt werden kann.

Die Jury besteht aus:

  • Dr. Matthias Bath, 1988–2007 Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Berlin, ehemaliger politischer Häftling
  • Peter Heidt, MdB, Obmann der FDP-Bundestagsfraktion im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Deutschen Bundestag
  • Prof. Dr. Huige Li, stellvertretender Direktor des Instituts für Pharmakologie der Universitätsmedizin Mainz, geboren in China
  • Bada Nam, Generalsekretär der Menschenrechtsorganisation PSCORE, Südkorea
  • Wladimir Nowitzki, Rechtsanwalt aus Moskau, Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), Sektion Russland
  • Carla Ottmann, stellvertretende Bundesvorsitzende der UOKG, ehemalige politische Gefangene in Hoheneck, ehrenamtliche Richterin am Sozialgericht Berlin
  • Dr. Klára Pinerová, Historikerin, Institut für das Studium totalitärer Regime der Tschechischen Republik in Prag
  • Prof. Dr. Dr. Thomas Schirrmacher, Präsident des Internationalen Rates der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, Experte für Menschenhandel
  • Marion Smith, Geschäftsführer von Victims of Communism, Memorial Foundation, US Congress
  • Arnold Vaatz, MdB, seit 2020 stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSUBundestagsfraktion, ehemaliger DDR-Bürgerrechtler, tonangebend bei der Wiederbegründung des Freistaates Sachsen

Cottbuser Erklärung zur DDR-Zwangsarbeit vom 13. September 2020

Vom 11. bis 13. September 2020 fand im Menschenrechtszentrum Cottbus, der früheren DDR-Strafanstalt Cottbus, auf Einladung der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) ein Tribunal zum Thema „Zwangsarbeit in politischer DDR-Haft“ statt.

Foto: Ein Teil der Jury, in der Mitte Carla Ottmann © BQ/Martin WarneckeEine international besetzte Jury stand hier vor der Aufgabe festzustellen, „ob Merkmale verbotener Zwangsarbeit und Ausbeutung nach international anerkannten Definitionen“ in Bezug auf politische Gefangene der SED-Diktatur erfüllt sind.

Die Jury hörte mehrere fachwissenschaftliche Vorträge zur Definition der Zwangsarbeit, deren völkerrechtliche Ächtung und zu den Grundlagen der Zwangsarbeit politischer Häftlinge der DDR in verschiedenen Industriezweigen.

Außerdem befragte die Jury 14 ehemalige politische Gefangene (vier Frauen und zehn Männer), die während ihrer Haft in unterschiedlichen Industriebereichen und zu verschiedenen Zeiten zu zwangsweiser Arbeit für Industriebetriebe der DDR herangezogen wurden.

Nach den gehörten Vorträgen und der durchgeführten Befragung der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen kommt die Jury zu dem Ergebnis, dass der DDR-Strafvollzug einer der größten Arbeitgeber innerhalb der staatlichen Planwirtschaft der DDR war. Hierzu unterhielt der DDR-Strafvollzug mit seinen Einrichtungen ein flächendeckendes Netz von Arbeitseinsatzbetrieben, in denen die verschiedensten DDR-Betriebe unter Ausnutzung der generell bestehenden Arbeitspflicht der Häftlinge in der DDR für ihre Zwecke produzieren ließen. Viele der so entstandenen Produkte waren für Exporte in das nicht-sozialistische Wirtschaftsgebiet bestimmt. Die nach internationalem Recht notwendige individuelle Verurteilung zu Zwangsarbeit durch das Gericht fand nicht statt.

Foto: Am Mikrofon Sylvia Wähling, Leiterin der Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus © BQ/Martin WarneckeDie Gefangenen konnten sich weder ihre Tätigkeit aussuchen, noch wurde auf ihre berufliche Qualifikation Rücksicht genommen. Die Heranziehung zur Arbeit erfolgte stattdessen allein nach den Vorgaben des Volkswirtschaftsplanes und den Möglichkeiten der jeweiligen Anstalt. Dabei wurden in den Anstaltsbetrieben die ansonsten in der DDR geltenden gesetzlichen Bestimmungen zum Gesundheits- und Arbeitsschutz vielfach nicht eingehalten. Die Häftlinge mussten länger arbeiten als dies in den normalen Betrieben der Fall war. In der Regel wurde in den Strafanstalten zudem im Dreischichtbetrieb rund um die Uhr gearbeitet. In den Gefängnisbetrieben wurden ferner häufig körperlich schwere und gesundheitlich gefährlichere Tätigkeiten ausgeübt. Es fehlte Arbeitskleidung und Schutzvorkehrungen zur Verhinderung von Arbeitsunfällen. So war auch die Unfallquote weitaus höher als in normalen Industriebetrieben. Außerdem war auch die medizinische Versorgung nach Arbeitsunfällen oftmals unzureichend.

Die Arbeitspflicht der Gefangenen wurde im Zweifelsfall bei Normuntererfüllung oder Arbeitsverweigerung mit scharfen Sanktionen, Arreststrafen bis hin zu körperlicher Gewalt durchgesetzt. Die Zeugen und Zeuginnen berichteten unter anderem von Schreibverbot, Schlägen, Bedrohung mit Konsequenzen für die Kinder und der Verbringung in Stehzellen. Damit sind die Merkmale der Zwangsarbeit erfüllt. Außerdem wurde diese Zwangsarbeit in der Regel unzureichend vergütet.

Die DDR hat damit gegen alle internationalen Vereinbarungen der Vereinten Nationen und der Internationalen Arbeitsorganisation zur Zurückdrängung und Ächtung der Zwangsarbeit verstoßen und ihren Gefangenen nicht einmal die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen zur Behandlung von Gefangenen gewährt, obwohl sie diesem letztgenannten Abkommen beigetreten war.

Foto: Thomas Schirrmacher im Gespräch mit Birgit Neumann-Becker, Landesbeauftragte des Landes Sachsen-Anhalt © BQ/Martin WarneckeAuch wenn die Bundesrepublik Deutschland nicht pauschal als Rechtsnachfolger der DDR anzusehen sein mag, ergibt sich doch aus der Werteordnung des Grundgesetzes und Art. 17 des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 eine rechtliche Verpflichtung zur dauerhaften Aufarbeitung des SED-Unrechts und zur Schaffung angemessener Entschädigungsregelungen für die Opfer der SED-Diktatur.

Die ehemaligen politischen Gefangenen der DDR sind heute in ihrer überwältigenden Mehrheit im Wege der strafrechtlichen Rehabilitierung für die von ihnen erlittene Freiheitsentziehung entschädigt worden.

Hierzu im krassen Gegensatz steht die oftmals in Ton und Sache unangemessene Behandlung von Entschädigungsanträgen und die Dauer der entsprechenden Verfahren.

Diese Entschädigungsregelungen erfassen aber nicht die über die bloße Freiheitsentziehung hinaus zusätzlich erlittene Zwangsarbeit und hieraus resultierende psychische und physische gesundheitliche Folgeschäden, so dass hier weiterer Regelungsbedarf besteht.

Zur Erleichterung der Anerkennung von Folgeschäden aus der DDR-Haft und dort erlittener Zwangsarbeit sollte bei hafttypischen Krankheitsbildern eine Regelvermutung zugunsten der Opfer der SED-Diktatur eingeführt werden bzw. die Beweislastumkehr im Sinne der Regelung des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) erfolgen.

Foto (von links nach rechts): Karl Hafen, Thomas Schirrmacher und Dr. Sorin Muresan vor dem Plakat des Tribunals und der Außenwand des ehemaligen Zuchthaus Cottbus © BQ/Martin WarneckeAußerdem sollte ein eigenständiger Fonds für Entschädigungs- bzw. Wiedergutmachungsleistungen zugunsten der ehemaligen Häftlingszwangsarbeiter geschaffen werden. Für diesen Fonds sollten vor allem die Nutznießer der politischen Zwangsarbeit in der DDR und deren Rechtsnachfolger Zahlungen leisten. Im Interesse der Geschädigten sind die politischen Mandats- und Entscheidungsträger aufgefordert, diesen Prozess zu fördern.

Wir begrüßen die Bereitschaft von IKEA, sich an diesem Fonds zu beteiligen. Wir fordern Firmen und politische Entscheidungsträger auf, diesem Beispiel zu folgen.

Für die Verwaltung dieses zu schaffenden Fonds kämen die Stiftung für politische Häftlinge oder die Stiftung DDR-Zwangsarbeit e. V. in Betracht.

Angesichts des fortgeschrittenen Alters der Betroffenen ist dringende Eile geboten.

Dr. Matthias Bath
Peter Heidt, MdB
Prof. Dr. Huige Li
Bada Nam
Carla Ottmann
Dr. Klára Pinerová
Prof. Dr. Dr. Thomas Schirrmacher
Marion Smith
Arnold Vaatz, MdB

 

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