Bonner Querschnitte 28/2023 Ausgabe 771
ZurückDie säkulare Staatsreligion
Finnland zieht gegen die christliche Konkurrenz zu Felde
(Bonn, 29.09.2023) Im Folgenden wird ein Kommentar des Präsidenten der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (ISHR) und Generalsekretärs der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA), Bischof Prof. Dr. Thomas Schirrmacher, zum Umgang mit Meinungs- und Religionsfreiheit in heutigen Staaten anhand des Beispiels von Finnland wiedergegeben.
Säkulare Weltanschauungen als Staatsreligionen
Staatsreligionen, die den Wettbewerb unterdrücken, waren in der Geschichte häufig anzutreffen und existieren auch heute noch vielerorts. Aber die säkularen Staatsreligionen der Gegenwart, die gegen ihren größten Konkurrenten, das Christentum, kämpfen, schaffen es irgendwie, als neutral zu gelten und nur im Namen der Menschenrechte und nicht im Namen einer nur von ihnen geglaubten und behaupteten Wahrheit zu handeln.
Es ist aber gerade das Wesen einer Staatsreligion, die Andersgläubige schikaniert und diskriminiert, dass sie ihre Wahrheit zur einzigen Realität erklärt und es schafft, die Bevölkerung glauben zu machen, dass ihr Glaube mit der Realität identisch ist bzw. dafür zu sorgen, dass die schweigende Mehrheit nicht rebelliert.
Extreme Formen solcher Ideologien unter Stalin und Hitler zeigen, dass dies sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite möglich ist, aber auch, dass Staatsterror nicht nur aus religiösem, sondern auch aus ideologischem Fundamentalismus entstehen kann. Man kann „Gott“ benutzen, um alle Menschen zu zwingen, auf eine bestimmte Weise zu denken und zu leben, aber man kann dies auch ohne Gott tun, indem man eine nicht-religiöse Weltanschauung fördert.
Religionen und nicht-religiöse Weltanschauungen werden im internationalen Verständnis der Menschenrechte gleichbehandelt. „Freedom of Religion or Belief“ bedeutet, dass religiöse und nicht-religiöse Weltanschauungen vom Staat gleich zu behandeln sind. Dies gilt nicht nur für ihren Schutz, sondern auch für ihre Verletzung. Es macht keinen Unterschied, ob es eine religiöse oder eine nicht-religiöse Weltanschauung ist, die die Macht und Gewalt des Staates gegen ihre Konkurrenten missbraucht: Beide führen zu einer massiven Verletzung der Menschenrechte anderer.
Es sollte klargestellt werden, dass die deutsche Übersetzung „Religions- und Glaubensfreiheit“ ein Verweis auf das englische „freedom of religion or belief“ ist, bei dem „belief“ generell religiöse Weltanschauungen und auch nicht-religiöse Überzeugungen einschließt, was im deutschen „Glauben“ nicht so deutlich zum Ausdruck kommt. Wenn „freedom of religion or belief“ verkürzt als „Religionsfreiheit“ wiedergegeben wird, bedeutet dies immer nicht nur Freiheit für religiöse Menschen, sondern auch Freiheit für Menschen anderer Weltanschauungssysteme, einschließlich atheistischer und nichtreligiöser Menschen. In dem berühmten Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 25. Mai 1992 heißt es: „Freiheit des Denkens, des Gewissens und der Religion ist eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft“ und zwar sowohl für religiöse Menschen, als auch für „Atheisten, Agnostiker, Skeptiker“.
Die Sowjetunion war ein Beispiel für einen Staat, der andere Religionen und Weltanschauungen im Namen seiner eigenen säkularen „Staatsreligion“ oder genauer gesagt seiner staatlichen Weltanschauung oder Staatsideologie unterdrückte. Dies galt sowohl für den größten Konkurrenten, das Christentum, als auch für Konkurrenten mit ähnlichen säkularen Ansichten. Die Sowjetunion verfolgte selbst abweichende Formen des Kommunismus brutal, so wie die mittelalterliche Kirche christliche Ketzer verfolgte.
Was ist anders daran, wenn Finnland oder Australien (oder welches Land auch immer) heute das Gleiche tun?
Zunächst ein Beispiel aus Australien: Der australische Bundesstaat Victoria verbietet seit 2020 nicht nur alle Arten von sogenannten Konversionstherapien, sondern auch „die Durchführung einer religiösen Praxis, einschließlich, aber nicht beschränkt auf eine auf Gebet basierende Praxis, eine Befreiungspraxis oder einen Exorzismus“ (siehe http://www5.austlii.edu.au/au/legis/vic/num_act/cosppa20213o2021623/s5.html). Es ist ganz klar, dass hier eine Weltanschauung mit absolutem Wahrheitsanspruch den Religionen die Durchführung von Gebeten verboten hat und tief in die religiöse Praxis eingreift, ja sogar vorschreibt, was man beten darf und was nicht.
Dass das Recht der Staatsreligionen oft gegen ihre Konkurrenten verbogen wird, hat sich in Finnland nur zu deutlich gezeigt, wie weiter unten näher beschrieben wird, wo ein Text aus dem Jahr 2004 Teil der Anklageschrift ist, obwohl das angewendete Gesetz damals noch gar nicht existierte. Eigentlich kann man niemanden für Dinge verklagen, die passiert sind, bevor ein Gesetz in Kraft getreten ist – das ist einer der ältesten Rechtsgrundsätze, die es gibt. Es wurde ein Weg gefunden, dies zu umgehen, weil der Text von 2004 später im Internet erneut zitiert wurde.
Für mich ist es erfreulich, wenn auch für unser Thema irrelevant, dass das Gericht in Helsinki zugunsten der Angeklagten entschieden hat. Auch die Frage, wie die nächste Instanz entscheiden wird, ist für meine Kritik irrelevant. Selbst in islamischen Ländern, in denen der Islam in strengster Form Staatsreligion ist, wie in Pakistan, hebt der Oberste Gerichtshof dank mutiger Richter oft das Todesurteil wegen Blasphemie oder Apostasie auf. Und in den europäischen Demokratien ist der Siegeszug säkularer Weltanschauungen, die keine Konkurrenz dulden, noch lange nicht abgeschlossen, wobei zahlreiche bahnbrechende Urteile oberster Gerichte übereifrige Strafverfolgungsbehörden in die Schranken weisen.
Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die finnische Generalstaatsanwältin als Vertreterin des säkularen Staates und mit Unterstützung der regierenden Politiker und führenden Medien gegen eine christliche Innenministerin (zum Zeitpunkt ihrer Aussagen) und einen lutherischen Bischof vorgeht. Und das alles wegen eines wirklich minimalen Vorkommnisses im Internet, von dem ohne die Anklageschrift kaum jemand erfahren hätte.
Natürlich hat das Ganze keine direkten Auswirkungen auf das Wohlergehen des Landes oder seiner Bürger. Es kann nur im Sinne des Hasses verstanden werden, der von einer neuen Staatsreligion zum Ausdruck gebracht wird, die die alte Staatsreligion vollständig vom Markt verdrängen will. Es soll ein Exempel statuiert werden, auch um einen Spirale des Schweigens in Gang zu setzen.
Man ist kein echter Bürger, wenn man die Weltanschauung der Mächtigen und Machthaber nicht teilt. Bestenfalls ist man ein Bürger zweiter Klasse, selbst als Bischof oder ehemalige Ministerin. Dies war in vielen Staaten der Fall, in denen die Staatsreligion oder die Staatsideologie ganze Klassen von Bürgern zu Nicht-Bürgern machte. Man konnte ihnen zwar nicht wirklich die Staatsbürgerschaft entziehen, aber man konnte ihnen zumindest vermitteln, dass sie nicht wirklich hierhergehörten. Nicht anders und nicht besser ist die Situation, wenn sich eine intolerante Staatsreligion oder Staatsideologie säkular etabliert.
Das Beispiel Finnlands
Päivi Räsänen, eine Ärztin, die seit 1995 dem finnischen Parlament angehörte und Innenministerin und Parteivorsitzende der Finnischen Christdemokraten war, und Juhana Pohjola, Bischof der evangelisch-lutherischen Missionsdiözese Finnlands, wurden wegen einer Broschüre angeklagt, in der homosexuelles Verhalten als Verstoß gegen die christliche Moral bezeichnet wird. Ein Bezirksgericht in Helsinki wies die Anklage einstimmig mit der Begründung ab, dass es ihm nicht zustehe, biblische Begriffe zu interpretieren. Das Gericht verurteilte die Staatsanwaltschaft zur Zahlung von mehr als 60.000 Euro Verfahrenskosten und gab ihr sieben Tage Zeit, um gegen das Urteil Berufung einzulegen.
Ministerin a. D. Räsänen war wegen „Hassrede“ angeklagt worden, weil sie in einem Tweet aus dem Jahr 2019, in einer Rundfunkdebatte aus dem Jahr 2019 und in einer Broschüre aus dem Jahr 2004 ihre auf ihrem Glauben basierenden Ansichten über Ehe und Sexualethik geteilt hatte. Bischof Pohjola wurde angeklagt, weil er Räsänens Broschüre vor über 17 Jahren für seine Gemeinde veröffentlichte. In einem Tweet aus dem Jahr 2019 stellte Räsänen die Frage, warum die Leitung der finnischen lutherischen Kirche, in der sie aktives Mitglied ist, eine LGBT-Veranstaltung namens „Pride 2019“ sponserte. Der Social-Media-Post enthielt Verse aus der Bibel, die homosexuelle Handlungen als sündhaft verurteilten. Der Tweet führte zu Ermittlungen gegen Räsänen, bei denen ein kirchliches Heft entdeckt wurde, das sie vor fast 20 Jahren verfasst hatte.
Im April 2021 erhob die finnische Generalstaatsanwaltschaft drei Strafanzeigen gegen Räsänen, die von 2004 bis 2015 Vorsitzende der Christdemokraten und von 2011 bis 2015 Innenministerin war. Zwei der drei Anklagen gegen Räsänen wurden nach der ausdrücklichen Empfehlung der Polizei, die Strafverfolgung nicht fortzusetzen, erhoben. Die Äußerungen Räsänens verstießen auch nicht gegen die Richtlinien von Twitter oder des nationalen Rundfunks, weshalb sie auf deren Plattformen frei zugänglich blieben.
Die Verhandlung dauerte zwei Tage. Die Staatsanwaltschaft nahm den Bischof und Räsänen zu ihrer Theologie ins Kreuzverhör und behauptete, dass die Verwendung des Wortes „Sünde“ „schädlich“ sein könne. Die Verteidigung argumentierte, dass eine Verurteilung Räsänens die Meinungsfreiheit in Finnland erheblich beeinträchtigen würde. Was Räsänen gesagt und geschrieben habe, sei ein Ausdruck der christlichen Lehre, so die Verteidigung. Das Gericht erkannte in seinem dreißigseitigen Urteil an, dass, auch wenn einige die Äußerungen Räsänens ablehnen mögen, „es einen zwingenden sozialen Grund für die Beeinträchtigung und Einschränkung der Meinungsfreiheit geben muss“. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass es keinen solchen Grund gibt.
Der Fall wurde gerade eben vor dem Berufungsgericht Helsinki erneut verhandelt, und das Urteil soll in den nächsten Monaten veröffentlicht werden. In der Verhandlung zeigte die Staatsanwältin die ganze Arroganz und Aggressivität einer Staatsideologie gegenüber den christlichen Überzeugungen der Angeklagten, wenn man der Medienberichterstattung Glauben schenkt. „Sie können glauben, was sie wollen, aber sie können nicht über alles reden, was sie glauben“, sagte die Staatsanwältin. Mehrmals forderte sie Räsänen auf, ihre Aussagen zu widerrufen. Generell wirkte die Staatsanwältin eher wie eine Predigerin neuer Gesetze als wie eine dem Recht verpflichtete Juristin. Andernfalls hätte sie sich bei ihrem Kreuzverhör nicht auf die Broschüre von 2004 konzentriert, die zu einem Zeitpunkt erschien, als man noch nicht einmal ahnen konnte, wie die Gesetzgebung fast zwei Jahrzehnte später aussehen würde. Zuvor hatte die Staatsanwältin gesagt, dass es zulässig sei, historische Bücher wie den Koran, Mein Kampf und die Bibel (man beachte die Zusammenstellung) zu zitieren, aber man dürfe nicht die in ihnen ausgedrückten Meinungen vertreten.
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