Bonner Querschnitte 05/2022 Ausgabe 709

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„Kostbarkeiten am Wegesrand“ von Hakk? Çimen und Sabine Neupert über die Lebenswelt der Zaza erhält positive Rezensionen

(Bonn, 14.02.2022) Das siebte Buch des Verlag für Kultur und Wissenschaft, das sich mit Sprache und Kultur der Zaza beschäftigt, hat von verschiedener Seite großes Lob erfahren. Wir bieten Ihnen im Folgenden Besprechungen von Marlene Jäger vom Niederrheinischen Literaturhaus Krefeld (1), von Hannah Weihe, Stellvertretende Vorsitzende des Verbandes der PädagogiklehrerInnen (2), des kürzlich wiedergewählten Vorsitzenden des DGB Krefelds, Philipp Einfalt (3) sowie von Michaela Plattenteich, Vorsitzende des Vereins Literatur in Krefeld (4).
 

BuchcoverBibliografische Angaben:

  • Hakkı Çimen, Sabine Neupert. Kostbarkeiten am Wegesrand. Zazaische Geschichten, Anekdoten und Erinnerungen. 2021. 214 S. 18.00 Euro. ISBN-13978-3-86269-185-2. Sectio I: Untersuchungen zu den iranischen Sprachen und Kulturen – ISSN 0945-2877, Band 7.

Rezension 1

In „Kostbarkeiten am Wegesrand“ (VKW, Co-Autorin Sabine Neupert) gibt Hakkı Çimen anhand seiner eigenen Biografie Einblicke in die Lebenswelt der Zaza, einer hierzulande wenig bekannten Bevölkerungsgruppe in der Türkei. Der Autor, der seit 1979 am Niederrhein lebt, beginnt mit der Schilderung des brutalen Völkermords 1938 – ein Ereignis, das die übrigen Geschichten und Anekdoten überschattet. Und genau darin besteht die Kunst dieses Essaybands: Çimen erzählt von der Resilienz der Zaza, indem er Unterdrückung und Ungerechtigkeit der rauen Schönheit der Dêsim-Region, den Freuden des Alltags in einer eng verwobenen Gemeinschaft und zahlreichen Erinnerungen an besondere Menschen gegenüberstellt. Lesenswert! 

Marlene Jäger, Niederrheinisches Literaturhaus Krefeld, #LiteraturNiederrhein

Rezension 2

Die zazaischen Erinnerungen Hakki Çimens in der feinfühligen, deutschen Bearbeitung der Co-Autorin Sabine Neupert „Kostbarkeiten am Wegesrand“ sind Geschichten gegen das Vergessen. Gegen das Vergessen einer vom türkischen System dem Untergang geweihten Kultur und seiner Sprache und gegen das Vergessen einer Familie, die man während des Lesens tief in sein Herz schließt. Und sie sind Erinnerungen an ein Aufwachsen und Leben in unvorstellbaren Zeiten.

Foto 1: Die Gegend, in der Hakkı aufgewachsen ist. © Hakki ÇimenWährend des Lesens wurde ich unweigerlich an die alten Geschichten meines Großvaters und auch meines Vaters erinnert – beide haben ihre Kindheit und Jugend einerseits im Angesicht der Kriege verbracht, andererseits erzählten sie stets von den kleinen, schönen Momenten, denen ich gespannt lauschte. Und so lesen sich diese Erinnerungen an Hakki Çimens Kindheit und seine Familie ebenfalls: Wir lernen Großväter und ‑mütter kennen, Eltern, Onkel, Tanten und jede Menge Schlitzohren. Geschichten, die einen schmunzeln lassen und die einen kurz vergessen lassen, dass diese Geschichten wahre Erinnerungen sind und keine Märchen.

Dass diese „Märchen“ von einem Volk stammen, das einen Völkermord hinter sich hat, immer wieder und bis heute unterdrückt und politisch verfolgt wird, wird einem schmerzhaft in Erinnerung gerufen, wenn die liebevollen Alltagsanekdoten unterbrochen werden von diffamierenden Schulbesuchen, die als Zwangsassimilationsanstalten bezeichnet werden, und Spitzeln, die einen aus Angst zum Schweigen bringen.

Während zu Beginn dieses Buches die Familie ihr Leid vor dem kleinen Hakki oft in Spielereien, Scherzen und Geschichten verpackte, wird man beim Lesen mit Hakki Çimen erwachsen: der Ton wird ernster und der Blick geschärfter auf das, was so gar nicht mehr zum Scherzen ist.

Der Winter ist kalt, Menschen sterben. Die lustigen Anekdoten, die wir bis hierhin selbst lesen durften, sorgen dafür, dass Zaza auf offener Straße erschossen werden, nur, weil sie dadurch die zazaische Kultur aufrechterhalten wollen und dabei gehört wurden.

Foto 2: Der Weg, auf dem Hakkı nach dem Viehhüten alle Tiere wieder ih-ren Besitzern zugeführt hat. © Hakki ÇimenWenn Çimen von seiner Zeit als Lehrer in der Türkei erzählt, der seine eigene Herkunft unterdrücken muss und dabei Kinder vor sich sitzen hat, die er ebenfalls dazu anhalten muss, dann begreift man beim Lesen spätestens hier, dass man keine verklärten Märchenerinnerungen liest. Nichts schlimmeres kann ich mir als Lehrerin vorstellen und so wundert es mich nicht, wenn er davon erzählt, wie er diesen Kindern durch kleine Gesten zeigt, dass sie bei ihm willkommen sind – und sei es „nur“ durch ein Paar Socken, die helfen sollen, den harten Winter zu überstehen.

Çimen verlässt sein Heimatland und lässt dabei nicht zuletzt seine Eltern zurück, die bleiben, weil es ihr Herz nicht zulässt, ihr Land und ihre Kultur aufzugeben, auch wenn sie weiterhin in Angst und Unterdrückung leben müssen. Damit teilt er das Schicksal vieler seiner Landsleute: Flucht und Sehnsucht nach den Zurückgebliebenen. Wer glaubt, mit der Flucht wäre nun Ruhe eingekehrt, der irrt, denn Hakki Çimen nutzt die oberflächliche Ruhe in Deutschland, um „seine“ Kultur und seine Sprache nicht in Vergessenheit geraten zu lassen – sei es durch Erzählungen, durch seinen Unterricht oder durch die zahlreichen Veröffentlichungen, die immer noch dafür sorgen, dass eine Reise in die Türkei bis heute kein sicheres Ziel ist.

Dennoch erzählt Hakki Çimen mit einer Leichtigkeit von diesen schlimmen Zeiten, die einen schlucken lassen und doch steht dies wohl stellvertretend für ein Volk, das sich einfach nur danach sehnt, in Ruhe leben zu dürfen, und nicht danach, Rache auszuüben für das, was ihm angetan wurde.

Sabine Neupert als sensible Co-Autorin und Hakki Çimen haben mit diesen „Kostbarkeiten am Wegesrand“ eines der umfänglichsten Werke der zazaischen Kultur geschaffen.

Hannah Weyhe, Stellvertretende Vorsitzende des Verbandes der PädagogiklehrerInnen, November 2021

Rezension 3

Kostbarkeiten am Wegesrand
Von Hakki Cimen und Sabine Neupert
Eine Rezension von Philipp Einfalt
Zazaische Geschichten, Anekdoten und Erinnerungen

Foto 3: Bertal, der Sohn von Onkel Murto und Tante Zere. © Hakki ÇimenAußergewöhnliche literarische Kostbarkeiten in einem außergewöhnlichen Erzählband. Das vorliegende Werk ist ein fesselndes Buch um außergewöhnliche Persönlichkeiten, faszinierende Landschaften und teilweise sehr bedrückende historische Tatsachen.

Vor wenigen Jahren habe ich zum ersten Mal überhaupt von den Zaza gehört. Am Rande einer gewerkschaftlichen Veranstaltung sprach mich der Autor Hakki Cimen an. So erfuhr ich zuerst in Kurzform von den Zazas und dem Wunsch die Identität des Volkes und seiner Sprache zu erhalten.

Ich erfuhr von dem Wunsch vieler Zaza-Eltern, Kultur und Sprache für die Nachwelt, sprich die Kinder zu erhalten und zugänglich zu machen. So konnte ich dabei helfen, Zazaisch als herkunftssprachlichen Unterricht zu etablieren.

Nach inzwischen vielen Gesprächen und Eintauchen in eine für mich neue alte Welt zeigte mir teilweise schmerzlich auf, welch langen Weg das Volk der Zaza, im tiefen Wusch die eigene Identität zu wahren, bisher gegangen ist.

Zu Beginn geben die Autorin und der Autor einen historischen Überblick, der nahtlos in eine autobiographische Familienerzählung übergeht, die die brutalen Geschehnisse eindrucksvoll darstellt und in den nun folgenden Erzählstil des Buches einführt. Auch zum Schmunzeln anregende, aber auch sehr brutale Geschichten über wahre Begebenheiten erwarten die Leserin und den Leser in diesem liebevoll zusammengetragenen Erzählband.

Foto 4: Eine den Zazas hl. Stätte. Uralte Erle, unter der auch heute noch Opfertiere geschlachtet und zubereitet werden. Man erkennt die gesam-melten Hörner. Im Hintergrund ist ein hl. Friedhof zu sehen. © Hakki Çimen„In unserer Tradition, fuhr dieser nun mit überzeugender Stimme fort, muss man jemandem beistehen, wenn er Schutz bei Dir sucht. Man muss sich seiner annehmen und darf denjenigen weder verraten noch einfach weiterschicken.“ So denkt die Leserin und der Leser vorerst, es sei einfach nur eine mehr als unterstützenswerte Tradition. Schmunzelnd entwickelt sich das Geschehen und endet recht gerissen. „Schließlich blieb dem armen Bako nichts anderes übrig, als sich still geschlagen zu geben und so zahlte er tatsächlich, wenn auch zähneknirschend, die Reisekosten für die Frau eines anderen.“

Oder: „Vier Pistolenkugeln hatten seinen Körper getroffen. Niemand sonst war weit und breit zu sehen und nach dem Fallen der Schüsse waren in der Stille der einsetzenden Nacht nur noch das weit entfernte Kläffen eines Hundes und der ununterbrochene Gesang der Zikaden zu hören. ... in erster Linie wurde aber durch Fremdeinwirkung und unbekannte Hände gemordet ...“

Wer Erzählungen über die ethnische Identität, wie Sprache, Kultur und Abstammung, mag und gerne in eine durchaus magisch anmutende Welt eintaucht, trifft mit diesem Buch die richtige Wahl. Es hat Wert eine alte Identität zu wahren – dies bedarf unserer Solidarität.

Philipp Einfalt, Oktober 2021

Rezension 4
Eine bewegende Geschichte der Herkunft

Westdeutsche Zeitung vom 27.12.2021

Foto 5: Detail vom Friedhof. Von türkischen Soldaten zerstörte Wid-derskulpturen aus Kalkstein, die typisch für die zazaische Bildhauertraditi-on waren. © Hakki ÇimenMit einer Sammlung von Geschichten und Anekdoten, die der Autor Hakkı Çimen jetzt in einem Buch gesammelt hat, erzählt er die bewegende Geschichte seiner eigenen Herkunft.

Çimen wurde 1957 in der ostanatolischen Provinz geboren, seine Familie gehört dem Volk der Zaza an, einer seit Jahrhunderten verfolgten ethnischen Minderheit in der Türkei. Die Repressalien, denen die Zaza im Laufe ihrer Geschichte immer wieder ausgesetzt wurden, spitzten sich nach dem Ersten Weltkrieg und der Gründung des türkischen Staates 1923 dramatisch zu. Die Situation führte 1938 zu einem Völkermord, der nach offiziellen Angaben 15 000 Menschen das Leben kostete, nach inoffiziellen Angaben waren es 70 000.                                                                                           

Diese historischen Ereignisse schildert der Autor im ersten Kapitel seines Buches „Kostbarkeiten am Wegesrand“ auf sachliche Art und Weise. Mit diesem kurzen Abriss der Geschichte der Zaza gibt der Autor eine notwendige Einführung für das, was in den folgenden Kapiteln folgt. Darin schildert Çimen zunächst, wie er als junger Mann in einem eher zufälligen Gespräch mit seiner Mutter von diesen schrecklichen Ereignissen erfuhr, bei denen auch viele Familienmitglieder um Leben kamen. „Und Mutter erzählte“ heißt dieses erste Kapitel, was zunächst harmlos klingt, aber wohl bei jedem Leser für Betroffenheit sorgen wird. Am Ende des Gesprächs liegen sich Mutter und Sohn weinend in den Armen, doch der Sohn weiß jetzt, was seine Bestimmung ist.

Çimen setzt sich für den Erhalt der zazaischen Kultur ein

Foto 7: Hakkı steht an der Stelle, von der aus er beobachtete, wie der Ad-ler dem Hahn den Garaus gemacht hat. © Hakki ÇimenBis heute setzt er sich für den Erhalt der zazaischen Sprache und Kultur ein. Dazu gehören auch die vielen kleinen Geschichten und Anekdoten, die vom Leben in dem kleinen Dorf, in dem Çimen aufgewachsen ist, erzählt. Es sind Geschichten aus seiner Kindheit, in der Menschen lebendig werden, die zwar ein hartes Leben führen mussten, trotzdem aber nicht ihren Humor oder ihre Zuversicht verloren haben. Auch eigene Kindheitserlebnisse sind eingeflochten. Die Geschichte „Kostbarkeit am Wegesrand“, die auch dem Buch insgesamt den Titel gegeben hat, erzählt, wie er einen glitzernden Gegenstand auf der Straße gefunden hat. Ohne ihn genauer zu betrachten, hält er ihn so fest in der Hand, damit ihn sein Vetter Avdile nicht zu sehen bekommt. Mit allen Mitteln verteidigt er seinen Schatz, auch als Avdile ihn körperlich angreift. Am Ende zeigt sich, dass der Gegenstand den Einsatz nicht wert war.

Eine andere Geschichte erzählt von der Schlagfertigkeit, die ein Dorfbewohner einmal dem türkischen Gouverneur gegenüber bewiesen hat. „Von Schlitzohren und liebenswerten Narren“ heißt dieses zweite, umfangreiche Kapitel des Buches. Im Folgenden ebenfalls aus vielen kleinen Geschichten bestehenden nächsten Kapitel erzählt der Autor von den Höhen und Tiefen seiner Schulzeit. Der Titel „Zwangsassimilationsanstalten“ deutet auf die Bedingungen, unter denen die Schüler dort lernten, hin. Nach seinem Abitur nahm Çimen ein Lehramtsstudium auf und emigrierte 1979 nach Deutschland. Er lebt in Krefeld und widmet sich als Lehrer und Autor mit Hingabe seinem Lebensthema, das in seiner Herkunft wurzelt. Als Erster hat er zazaische Schulbücher entwickelt und die vom Aussterben bedrohte Sprache als Unterrichtsfach etablieren können. In letzten Kapitel „Zwischen den Stühlen“ erzählt er aber auch von Schwierigkeiten, die ihm aufgrund dieses Engagements widerfahren sind. Die Geschichte „Infam“ beschreibt die verbalen Attacken bis hin zur Verleumdung einer türkischen Mutter, denen sich der Lehrer ausgesetzt sah. 

Foto 8: Hakkıs Elternhaus, oberhalb des Friedhofes, das 1994 vom türki-schen Militär zerstört wurde. © Hakki ÇimenAls Autor hat Çimen auch seinen Beitrag zur Krefelder Literaturszene um Klaus Düsselberg geleistet, hat in der Zeitschrift „Literatur am Niederrhein“ seine Texte veröffentlicht. Im Dezember 2018 ließ er in einer sehr bewegenden Lesung im Niederrheinischen Literaturhaus die „Schlitzohren und liebenswerten Narren“ seiner Kindheit aufleben. Seit 2008 steht ihm als Co-Autorin Sabine Neupert zur Seite, sie gestaltete mehrere zazaische Märchen- und Schulbücher und bearbeitet die deutschsprachigen Buchfassungen.

Auch an dem jetzt erschienen Buch hat sie mitgearbeitet. „Kostbarkeiten am Wegesrand“ ist kein leichtes Buch, doch eine wunderbare Möglichkeit, in die Geschichte und Kultur eines Volkes einzutauchen. Außerdem versteht es Çimen sehr gut, die historischen Gegebenheiten mit seiner eigenen Biografie zu verbinden, so dass Geschichte lebendig wird. Sein Buch ist all jenen gewidmet , „die wir nie vergessen wollen“, es ist aber auch ein leidenschaftlicher Apell an die heutige Generation, die Werte der Demokratie zu schätzen und zu bewahren.                                                                     

Von Michaela Plattenteich, Kultur in Krefeld


Downloads und Links:

  • Buchcover (pdf)
  • Foto 1: Die Gegend, in der Hakkı aufgewachsen ist. © Hakki Çimen
  • Foto 2: Der Weg, auf dem Hakkı nach dem Viehhüten alle Tiere wieder ihren Besitzern zugeführt hat. © Hakki Çimen
  • Foto 3: Bertal, der Sohn von Onkel Murto und Tante Zere. © Hakki Çimen
  • Foto 4: Eine den Zazas hl. Stätte. Uralte Erle, unter der auch heute noch Opfertiere geschlachtet und zubereitet werden. Man erkennt die gesammelten Hörner. Im Hintergrund ist ein hl. Friedhof zu sehen. © Hakki Çimen
  • Foto 5: Detail vom Friedhof. Von türkischen Soldaten zerstörte Widderskulpturen aus Kalkstein, die typisch für die zazaische Bildhauertradition waren.
    © Hakki Çimen
  • Foto 6: Detail eines Grabsteins, das den gekonnten Umgang des Verstorbenen mit Waffen hervorhebt. © Hakki Çimen
  • Foto 7: Hakkı steht an der Stelle, von der aus er beobachtete, wie der Adler dem Hahn den Garaus gemacht hat. © Hakki Çimen
  • Foto 8: Hakkıs Elternhaus, oberhalb des Friedhofes, das 1994 vom türkischen Militär zerstört wurde. © Hakki Çimen
  • Das Buch beim Verlag für Kultur und Wissenschaft (Einkaufsmöglichkeit):
    https://vkwonline.com/Kostbarkeiten-am-Wegesrand

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