Bonner Querschnitte 18/2007 Ausgabe 48

Zurück

Wenn der Staatsanwalt missionarische Tätigkeiten als kriminell ansieht, ist es nicht schwer zu verstehen, wie einige Personen ausrasten und solche Menschen töten.

(Bonn, 23.11.2007) Der Autor des folgenden Textes, Orhan Kemal Cengiz (Opens window for sending emailorhan.kemal@tdn.com.tr), ist einer der Anwälte der Hinterbliebenen der Malatya-Opfer. Der Artikel wurde am 22.11.2007 in der „Turkish Daily News“ unter dem Titel „What is going on in the Malatya massacre case?“ veröffentlicht. Das englische Original ist ebenfalls als BQ veröffentlicht.

 

Vor sieben Monaten wurden drei christliche Missionare erbarmungslos ermordet von einer Bande türkischer Nationalisten in der ostanatolischen Stadt Malatya. Die Mörder brachen bei Zirve Yay?nc?l?k, einem Bibelverlag, ein; sie folterten ihre Opfer zuerst und ermordeten sie danach, indem sie ihnen die Kehle durchschnitten.

Sieben Monate nach den blutigen Morden eröffnete der Staatsanwalt sein Verfahren gegen die Verbrecher. Sieben lange Monate konnten wir keinerlei Dokumente der Akte einsehen, da sie als vertraulich eingestuft worden waren. Auf was haben wir sieben Monate gewartet? Nachdem ich die Akte gelesen habe, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass wir umsonst gewartet haben. Wir wissen nicht mehr als das, was wir schon vor sieben Monaten wussten. Was hat somit der Staatsanwalt während dieser langen Zeit gemacht?

Die Mentalität des Staatsanwalts

Es gibt 31 Aktenordner in diesem Fall, aber nur 15 dieser Aktenordner beinhalten Informationen über den Mord. Um was geht es in den anderen 16 Ordnern? Sie werden es nicht glauben, aber diese Akten handeln von den Aktivitäten der Opfer, deren Kehlen durchgeschnitten worden waren. Der Staatsanwalt lud sich alle Dokumente von den Computern der Opfer herunter und legte sie in den Akten des Falles als „Beweis“ ab. Wenn ich den Hintergrund nicht kennen würde, würde ich denken, dass hier zwei Banden einander bekämpften und dass Mitglieder der einen Bande die Mitglieder der anderen töteten, und dass der Staatsanwalt Beweise sammelte über diese beiden Banden! In Wirklichkeit sprechen wir aber über ein unglaubliches Abschlachten dreier unschuldiger Personen, deren einzige Übeltat es war, missionarische Tätigkeiten am falschen Ort ausgeübt zu haben! Aber der Staatsanwalt sammelte alle Informationen über ihre missionarischen Tätigkeiten. Wenn ein Staatsanwalt missionarische Tätigkeiten als kriminell ansieht, ist es nicht schwer zu verstehen, wie einige Menschen ausrasten konnten und diese Missionare töteten!

Außerdem können diese Akten, die nun veröffentlicht sind, zu neuen Morden führen, da sie viele Details enthalten über andere Protestanten, die in unterschiedlichen Teilen der Türkei wohnen. Die Adressen, eMail-Adressen und Telefonnummern vieler türkischer Protestanten sind in diesen Akten, welche auch schon in den Händen der Mörder gewesen waren. Der Staatsanwalt versäumte es, eine gründliche Untersuchung durchzuführen, und brachte zudem viele weitere Menschenleben in Gefahr. Warum all diese Informationen in den Akten sind, dürfte m.E. niemand erklären können.

Ein Blick in diese Akten genügt, um zu verstehen, wie ineffizient diese abgefasst wurden. Die Aussagen wurden nicht korrekt festgehalten, die richtigen Fragen nicht gestellt, wichtigen Details nicht nachgegangen. Ich würde Ihnen gerne einige genauere Informationen geben, allerdings würde dann, wenn ich auf alle seltsamen Details eingehen wollte, aus diesem Artikel ein kleines Buch werden. Deshalb möchte ich vorläufig einige Beispiele geben, um ihnen ein allgemeines Bild zu geben über den Stand der Prozessvorbereitungen im Fall des Malatya-Massakers.

Ungenügende Ermittlung:

Emre Gunayd?n, der Hauptverdächtige in diesem Fall, gibt an, dass er von mehreren Personen auf die Protestanten gelenkt wurde, und gab einige Namen an. Ihm wurden aber keine Fragen gestellt, wie er genau gelenkt wurde oder was ihm gesagt worden war. Emre gibt an, dass er Mitglied war von Ülkü Ocaklar? (des Jugendflügels der ultranationalistischen „Partei der Nationalistischen Bewegung“, MHP), aber ihm wurde keine einzige Frage über seine Mitgliedschaft in Ülkü Ocaklar? gestellt, deren Mitglieder zuvor gegen missionarische Tätigkeiten des Bibelverlages demonstriert hatten.

Die Stellungnahme von Ruhi Polat, der laut Emre diesen über missionarische Aktivitäten informierte und der Mitglied der MHP ist, ist gerade eine halbe Seite lang. Weder die Polizei noch der Staatsanwalt führte irgendeine Untersuchung über die Verbindungen zu dieser Person durch. Diese Person gibt an, dass er einmal mit Emre telefonierte; sieht man sich aber den Telefonverkehr in der Akte an, kann man erkennen, dass vor den Morden viele Telefonaten zwischen Emre und dieser Person stattfanden. Aber niemand störte sie, indem er nach diesem Widerspruch gefragt hätte. Selbst ein ungeübtes Auge kann erkennen, dass viele Bandenmitglieder, die wahrscheinlich in verschiedenen Stufen des Planes eingebunden waren, nur deshalb freigelassen wurden, weil nicht ausreichend in die Untersuchung ihrer Beziehungen und Handlungen investiert wurde. Alle Aussagen dieser Akte sind oberflächlich, es fehlen unerlässliche Details. Aus den Aussagen geht klar hervor, dass dieser Mord seit mindestens mehreren Monaten geplant und vorbereitet wurde. Es ist wirklich sehr schwer zu glauben, dass die Polizei oder die Gendarmerie keinerlei Informationen über die Pläne dieser Mörder hatten.

Durch die Protokolle über Kommunikation, wie Telefon etc., die in die Akte aufgenommen wurde, verstehen wir, dass Necati Ayd?n, eines der Opfer, unter ständiger Überwachung gewesen war, und in seinem Polizeibereicht wurde er als früherer Krimineller gemeldet mit dem „Verbrechen“ der „missionarischen Tätigkeit“ (obgleich er seinerzeit freigesprochen wurde!, Red. BQ).

Der Staatsanwalt, der alle Arten der Dokumente über die Aktivitäten der Opfer der Akte zufügte, untersuchte auf keine Weise die provozierenden Publikationen der örtlichen Zeitungen.

Kurz gesagt wurde dieser Fall so bearbeitet, dass es den Anschein erweckt, als ob eine Handvoll junger Leute ärgerlich über die Missionare geworden sei und beschlossen habe, sie zu eliminieren. So einfach ist das.

Massaker für das Heimatland

Wenn Sie sich die letzten Seiten der Akte anschauen, können Sie aber ein ganz anderes Bild gewinnen. Da gibt es Briefe, die diese Mörder an ihre Familien und Freundinnen schickten. In diesen Briefen sagen sie, dass sie sich für das, was sie getan haben, nicht schämen, weil sie es für ihr Land taten, und dass sie sich für ihr Heimatland geopfert haben. Sie möchten dafür gerühmt und sich geschätzt wissen. Und es muss einige Menschen geben, die ihnen diese positiven Empfindungen geben.

Wenn offizielle Vertreter des Staates jeden Tag davon reden, dass die Türkei in nahe bevorstehender Gefahr sei, dass es Feinde mitten im Land gäbe, dass Missionare die Agenten fremder Staaten seien, die versuchten, die Türkei zu zerbrechen, und so weiter und so fort, dann sind solche fürchterlichen Verbrechen unvermeidlich. Wenn „Feinde im Inneren“ so wie Missionare auf unzähligen Webseiten als legitime Ziele gezeigt werden und kein gesetzliches Vorgehen gegen diesen Wahn erfolgt, werden wir fortgesetzt neue Morde, Angriffe und Abschlachten sehen.

Beide Fälle, der von Hrant Dink und der von Malatya, sind für die Zukunft des Landes extrem wichtig. Die vom Staatsanwalt erarbeitete Akte rief sehr große Enttäuschung bei mir hervor. Aber die Anwälte von Dink und einige Anwälte des ?emdinli-Falles (ein Bombenanschlag auf einen Buchladen in der südöstlichen Stadt ?emdinli im Jahr 2005) wohnen dem Fall von Malatya bei. Auf diese Weise werden wir ein kollektives Gedächtnis entwickeln, und ich hoffe, dass dieses Gedächtnis uns helfen wird, Licht in dieses Netz dunkler Verbindungen zu bringen.

 

Die erste Anhörung ist diesen Freitag [23.11.2007] in Malatya. Wir wollen versuchen, ein Licht zu entzünden.

© 2005 Dogan Daily News Inc. www.turkishdailynews.com.tr

 

Zum freien Abdruck, auch einzeln und auszugsweise.