Bonner Querschnitte 26/2016 Ausgabe 421

Zurück

Immer noch kein Urteil im Malatya-Mordprozess

Türkische Christen enttäuscht über erneute Vertagung

(Bonn, 28.06.2016) Obwohl im Vorfeld ein Urteil gegenüber Hinterbliebenen und Kirchenleitern in Aussicht gestellt wurde, hat das Gericht im osttürkischen Malatya beim heutigen 114. Verhandlungstag erneut kein Urteil gefällt. Der nächste Verhandlungstag ist jetzt für den 28. September angesetzt. An diesem soll dann auch das Urteil verkündet werden.

Am 18. April 2007 wurden in den Räumen des christlichen Zirve-Verlages die beiden türkischen Christen Necati Ayd?n und U?ur Yüksel sowie der deutsche Theologe Tilmann Geske ermordet. Angeklagt sind neben fünf jungen Männern, die noch am Tatort festgenommen wurden, auch weitere Tatverdächtige, denen Unterstützung der Tat und Bildung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen wird. Unter ihnen sind der frühere Kommandant der Provinzgendarmerie von Malatya, der Oberst im Ruhestand Mehmet Ülger, der Vorsitzende des Spionageausschusses der Provinzgendarmerie von Malatya, Hauptmann Haydar Ye?il, die Unteroffiziere Murat Göktürk und Abdullah At?lgan, das Mitglied des Lehrkörpers der theologischen Fakultät von Malatya Ruhi Abat und andere.

Der Anwalt Ali Koç, der die Nebenklage vertritt, äußerte Medienberichten zufolge, dass man viel zu wenig unternommen habe, um Hintergründe und mögliche Anstifter zu finden: „Die neun Jahre der Gerichtsverhandlung sind aus der Sicht von Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit eine große Null. Wir erwarten nichts von den Gerichtsorganen, hoffentlich irren wir uns.“ Die Anwältin der Nebenklage Hürrem Carolin Çevik ergänzte: „Diese Mordtat kann nicht von fünf Einzeltätern verübt worden sein. Jemand muss im Hintergrund gewesen sein.“

Susanne Geske, die Witwe des deutschen Mordopfers, die auch dieses Mal wieder mit ihren drei Kindern vor Ort dem Prozess gefolgt ist, wies zunächst auf den im Gerichtssaal hängenden Spruch „Gerechtigkeit ist die Grundlage des Staates“ hin. In einem Interview äußerte sie: „Am ersten Gerichtstag habe ich an diesen Spruch geglaubt. Aber so vieles hat sich verändert. Mein Vertrauen in die Gerechtigkeit ist erschüttert. Ich glaube nur noch an Gottes gerechtes Gericht.“ Sie wäre überrascht, wenn es nach neun Jahren zu einem „fairen Urteil“ kommen würde.

In der Türkei lebende Christen sind deshalb erneut enttäuscht und sehr ernüchtert, aber nicht wirklich überrascht über den Prozessverlauf. Wie BQ gegenüber aus evangelischen Kreisen in Istanbul geäußert wurde, seien Verzögerungen und Hinhaltetaktiken nicht unüblich. Man müsse annehmen, dass die wirklichen Hintermänner offenbar nicht herausgefunden und zur Rechenschaft gezogen werden sollten. „Wenn Sachen zu groß werden, hat die Unabhängigkeit der Gerichte in den letzten Jahren sehr gelitten.“

Sollte hinter den Morden je der Gedanke gesteckt haben, die kleine evangelische Gemeinde in der Türkei nachhaltig zu schwächen, sei dieses Ziel Gott sei Dank nicht erreicht worden. Im Gegenteil habe die Anzahl der evangelischen Christen, auch und gerade aus muslimischem Hintergrund, seit den Morden nachhaltig zugenommen. Die bestehenden Gemeinden seien in den letzten bald zehn Jahren innerlich gefestigt worden und in vielen, auch kleineren Städten seien neue Gemeinden gegründet worden.

Zudem gäbe es konkrete Beispiele, dass Menschen durch die Malatya-Morde in ein intensives Nachdenken über ihren Glauben gekommen und Christen geworden seien. Als Beispiel könne ein älterer Mann und erfolgreicher Unternehmer in einem eher konservativen Stadtteil Istanbuls gelten. Er habe sich als frommer Muslim gefragt, ob diese Morde mit dem Islam vereinbar seien. Nach dem Studium von Koran und Hadithen (der Überlieferung der Aussprüche und Taten Mohammeds) sei er zu dem Ergebnis gekommen, dass das in gewisser Weise wohl tatsächlich gerechtfertigt sei. Er habe dieses Ergebnis aber nicht einfach akzeptieren wollen und sich mit dem christlichen Glauben beschäftigt, für den die drei Männer in Malatya umbebracht worden waren. Nach intensivem Studium der Bibel und vielen Gesprächen mit Christen ist er Christ geworden und gehört heute zu einer örtlichen evangelischen Gemeinde. Er lebt seinen Glauben und bezeugt ihn in seinem Umfeld, auch wenn er dadurch Anfeindungen vielfacher Art in Kauf nehmen muss.

Die Anzahl der protestantischen Christen in der Türkei ist bezogen auf die Gesamteinwohnerzahl der Türkei von ca. 80 Millionen immer noch sehr klein. Alles in allem zählt man heute in etwa 5000 Gläubige in den evangelischen Gemeinden. Die Gesamtzahl der Christen beträgt Schätzungen zufolge nicht mehr als 120.000, wobei die armenisch-orthodoxen Christen mit ca. 70.000 Gläubigen die Mehrheit stellen.

Einen guten Einblick in den Fall bietet auch der am 26.06.2016 erschiene Artikel „Warum die Mörder eines Christen noch frei sind“ von Till-Reimer Stoldt in der Opens external link in new windowWELT

Dokumente

BQ0421.pdf